Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig, aber beabsichtigt.

22. Mai
Es ist geschafft. Mein letzter Arbeitstag. Ich bin endlich pensioniert!
Jetzt geht mein Leben richtig los. Ab heute will ich einfach das machen, woran mich diese verdammte Arbeit immer gehindert hat.

23. Mai
Ich stehe früh auf und weiss gar nicht, was ich zuerst tun soll. Der Rasen muss gemäht werden, ich will die Dachrinne reparieren, ich muss die Wasserhähne entkalken, ich will ein Vogelhäuschen bauen und endlich mal „Krieg und Frieden“ lesen.
Treffe vor meinem Haus meinen Nachbarn. Er ist auch Rentner. Er läuft unrasiert im Jogginganzug herum, sieht aus wie Jörg Kachelmann nach 30 Tequilas, Nachmittags hockt er vor der Glotze und schaut Talkshows oder knobelt an Kreuzworträtseln herum. Das wäre nichts für mich.
Ich mähe erstmal den Rasen, reinige die Dachrinne und fange mit einem Vogelhäuschen an.
Das Leben ist wunderbar.

2. Juni
Der Rasen ist gemäht, die Dachrinne gereinigt und das Vogelhäuschen ist fertig. Die Vögelein fliegen an und trillern fröhlich. Herzig!
Ich fahre zum Baumarkt, besorge Entkalker für die Wasserhähne. Der Baumarkt ist voll mit Pensionierten. Jeden Morgen trifft sich da das Krampfadergeschwader am Holzzuschnitt. Hui! Ganz schön trübe Tassen...
Fahre nach Hause und entkalke die Wasserhähne.

7. Juni
Etwas länger geschlafen. Dann frühstücke ich und kontrolliere, ob die Wasserhähne nicht neuen Kalk angesetzt haben. Danach Rasen mähen und Fahrt zum Baumarkt. Lasse mir Holz für ein weiteres Vogelhäuschen zuschneiden. Dann hab’ ich zwei. Eins für die Männchen und eins für die Weibchen. Lustig, oder?

22. Juni
Bis Mittags geschlafen. Dann noch ein Vogelhäuschen für Behinderte gebastelt. (Es ist etwas grösser, mit breiterem Einflugloch)
Dann Rasen gedüngt, damit er schneller wächst und mehr gemäht werden muss.
Anschliessend Tee mit meiner Frau. Ich gebe ihr Tipps für die Arbeit im Haushalt.
Manchmal habe ich den Verdacht, das sie das irgendwie nicht so schätzt. Kürzlich hat sie beim gemeinsamen Dartspielen mein Foto an die Dartscheibe geheftet. Seltsam.

30. Juni
Will mal wieder mit einem anderen Menschen reden und gehe zum Arzt. Viele Rentner gehen zum Arzt, einfach nur um mal zu quatschen. Ich habe mir Prostatabeschwerden ausgedacht. Aber er schickt mich nach Hause – Rentner hätten genügend Zeit zum Pinkeln.
Frechheit.

13. Juli
Schlafen bis zwei. Danach Rasen mähen und ein Vogelhäuschen bauen. Im Garten stehen jetzt 28 Stück. Als ich dieses Neunundzwanzigste aufstellen will, finde ich im Gras einen Zettel. Die Vögel haben ihn geschrieben: „Alter, hör auf mit diesem blöden Vogelhäuschenbasteln, es ist jetzt genug und es ist uns vor den andern Tieren peinlich!“. Ist das jetzt der Dank...
Mein Nachbar bietet mir ein Kreuzworträtselheft an.
Ich schau mal rein.
Russischer Fluss mit sieben Buchstaben. Ach, was denkt sich dieser Idiot?
Meint der wirklich, dass ich jetzt Zeit habe, mir im Atlas russische Flüsse mit sieben Buchstaben heraus zu suchen? Blödmann!

1. August
Es gibt insgesamt 1376 russische Flüsse mit sieben Buchstaben. Die Bekanntesten sind: Bjelaja, Dnjestr, Irtysch, Utschur und Wolchov.
Am Abend Krise mit meiner Frau. Unser erotisches Leben ist eingeschlafen.
Passiert vielen Pensionierten, habe ich gehört.
Meine Frau schlägt vor, wir sollten mal Sex an anderen Orten probieren.

4. September
Wir haben die Seiten im Bett getauscht.
Hilft aber nicht.
Habe gelesen, 50 % der Männer über 65 nehmen Viagra.
Aber auch, dass sich ein Grossteil nach dem Einsetzen der Wirkung nicht mehr daran erinnert, wozu das gut sein soll.

30. September
„Krieg und Frieden“ lese ich nicht mehr weiter.
Schaue jetzt mehr Nachmittagstalkshows.
Heute zum Beispiel war das Thema: „Kampfscheidung: Er spricht nur noch über seinen Anwalt mit mir“.
Ist sehr spannend. Ich freue mich schon auf die Fortsetzung von Morgen, wo er dann redet. Viel besser als „Krieg und Frieden“.

26. Oktober
Meine Frau meint, wir sollten etwas mehr für unsere Gesundheit tun: „Wellness“.
Sobald man pensioniert ist, soll alles nur noch „Wellness“ sein.
„Die Seele baumeln lassen“. Für was soll das gut sein? Es baumelt am Körper sowieso schon Einiges. Da muss die Seele nicht auch noch mitbaumeln.
Sie schleppt mich zum Senioren-Yoga, in die Senioren-Bio-Kräuter-Sauna, zum Pilates. Pilates! Krass! Das war für mich bislang der Typ, der Jesus gekreuzigt hat.

12. November
Wieder beim Senioren-Yoga. Der Guru will heute, dass ich die Stellung „Wasserbüffel in der Morgensonne“ mache. Jetzt reicht’s!
Ich mache die Figur „Arbeitnehmer betätigt die Stechuhr!“, worauf ich aus dem Kurs geworfen werde. Einige ältere Mitturner schauen mir neidisch nach.

3. Januar
Habe mit Sport ganz aufgehört. Für was auch. Nur den Jogginganzug, den trage ich ganz gern. Ist bequem und ist mühelos beim Anziehen.
Rasieren ist auch nicht mehr so wichtig. Als ich auf die Strasse ging, fragte mich letzthin ein Obdachloser, ob ich einen Franken brauche.
Meine Frau sieht mein beschauliches Leben nicht gerne. Sie will mich aktivieren und hat dazu einen Dackel gekauft.
Das ist das Ende.
Wenn der beste Freund eines Mannes eine Wurst mit vier Beinen sein soll, die dazu noch Goliath heisst, ist es Zeit für ihn, abzutreten.
Ich schäme mich beim Gassi gehen mit dieser Trethupe.
Da geh’ ich halt gezwungenermassen eher abseits. Sitze dann im Wald auf einer Bank und mein Blick fällt auf die Ameisen am Boden. Tja, die Ameisen. Da sagt keine, „Ich arbeite nicht mehr, ich bin pensioniert und mache Pilates.“

12. Februar
Bin nachts nicht müde. Wovon auch? Stehe deshalb auf, setze mich ins Auto und fahre durch die nächtlichen Strassen. Ich lande bei meiner alten Firma, steige aus, gehe hin und streichle das Gebäude.
Auf der Rückfahrt, es dämmert bereits der Morgen, sehe ich, wie an einer Landstrasse Türken auf dem illegalen Arbeitsstrich rumstehen und warten, dass sie zur Schwarzarbeit abgeholt werden. Traurig, so was!

3. März
Habe mich mitten in der Nacht dunkel geschminkt, einen Schnauz angeklebt und bin aus dem Haus geschlichen. Ich reihe mich unter die Türken an der Strasse ein.
Serhat, Mehmet, Ügür und Öczan.
Im Auto dann stellt sich heraus, die heissen eigentlich Franz, Wlliy, Theo und Hansruedi. Und sind auch Pensionierte, auch mit angeklebten Schnäuzen.
Bis am Abend Arbeit auf einer Baustelle: Ich war lange nicht so glücklich!

12. April
Fahre jetzt jeden Morgen mit den anderen Rentnern auf die Baustelle. Nach Feierabend sitzen wir zusammen und überlegen, was wir noch machen könnten. Auf jeden Fall wollen wir eine Firma gründen, oder gar einen Konzern, wir wollen chrampfen und malochen.
Auch mit 66 kann man noch viel erreichen, oder nicht?

Den Businessplan haben wir bereinigt.
Ist aber noch geheim.
Nur so viel: Vogelhäuschen.

 

(Wurde vor Jahren von Turik in den Seniorweb Foren veröffentlicht)